Interview mit Bezirksbürgermeisterin Irma Walkling-Stehmann zur EU
Irma Walkling-Stehmann ist seit 1970 Mitglied in der SPD und lebt seit Oktober 1982 in Hannover-List. Seit 2011 ist sie Bezirksbürgermeisterin in Vahrenwald-List. Wir, der Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit des SPD Ortsvereins Vahrenwald-List, haben sie zu ihren Erfahrungen und Eindrücken von der EU befragt.
1. Wie hat sich die EU während Deiner Parteimitgliedschaft in der SPD entwickelt und verändert?
Ich bin 1970 in die SPD eingetreten und war damals das erste weibliche Mitglied im OV Rosenthal. Richtig mit der EU habe ich mich erstmalig beschäftigt, als mein Mann 1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der EU- Abgeordneten Barbara Simons wurde. Damals waren die international beachteten Themen Nelson Mandelas Gerichtsprozess und Inhaftierung sowie die Aktivitäten der militärischen und politischen Organisation Polisario im Westsaharakonflikt. Damals habe ich auch die Sitzungsorte des Europäischen Parlaments in Straßburg und Brüssel kennengelernt.
Für mich war die EU schon damals stark in der Außenpolitik engagiert, auch ohne dass es eine zuständige Person für diese Thema gab. Heute hat die EU mit Federica Mogherini eine offizielle Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Daneben stand schon immer die europäische Sozialpolitik im Mittelpunkt der EU-Arbeit. Auch Gewerkschaftspolitik war immer Teil der europäischen Sozialpolitik. Schon in den 1980er Jahren hatte die EU sowohl in Niedersachsen als auch in Deutschland ein gutes Standing. Große Politiker wie Willi Brandt, Helmut Kohl und Helmut Schmidt hatten sich schon damals sehr für die EU engagiert.
Die größte Veränderung für die EU ist das Wachstum in den letzten Jahren, insbesondere um die 10 osteuropäischen Staaten. Dadurch wird es noch wichtiger, dass das Europäische Parlament seine Arbeit gut an die Bürger und Bürgerinnen kommuniziert. Hier genügt es nicht, dass alle 5 Jahre vor der Wahl Wahlkampf betrieben wird. Außerdem kommt zurzeit in allen Mitgliedsstaaten der erstarkende Populismus und der damit einhergehende Wunsch nach einem Rückfall in den Nationalstaat hinzu. Dies ist aktuell die größte Herausforderung der EU.
2. Was sind Deiner Ansicht nach die größten Errungenschaften der EU?
Für mich sind die größten Errungenschaften der EU:
- Der langjährige Frieden in Europa und der Wegfall von Diktaturen. Durch diese Errungenschaften leben die EU-Bürger und –Bürgerinnen in Sicherheit und mit einem Sicherheitsgefühl als Selbstverständnis.
- Das freie Arbeitsrecht und die Bewegungsfreiheit aller EU-Bürger und –Bürgerinnen
- Der Europäischer Pass: Der Pass garantiert nicht nur Bewegungsfreiheit innerhalb der EU, sondern genießt auch international weitgehende Anerkennung.
3. Inwiefern war die EU Teil Deiner Arbeit als Lehrerin und Leiterin des Schulzentrums für Krankenpflegeberufe des ehemaligen Klinikum Hannover?
Die Staaten der EU waren immer dann relevant, wenn ich mit meinen Schülern über einen Vergleich der Ausbildungen in den Pflege- und Gesundheitssystemen der EU-Mitgliedsstaaten diskutiert hatte. Wir hatten festgestellt, dass die Pflegeausbildung in Europa völlig unterschiedlich war und auch heute noch ist. Es gibt innerhalb der EU keine einheitliche Ausbildung aufgrund der unterschiedlichen Strukturen in den jeweiligen Gesundheitssystemen in der EU.
Wichtig ist für mich nicht die gänzliche Anpassung der Gesundheitssysteme an sich, sondern vielmehr, dass die Ausbildungen in den Mitgliedsstaaten wechselseitig als gleichwertig anerkannt werden.
4. Wo siehst Du zurzeit den größten Handlungsbedarf in der EU?
Für mich sind die folgenden vier Themen aktuell die größten Herausforderungen:
- Die Jugendarbeitslosigkeit, damit meine ich, dass Jugendliche und junge Erwachsene keine qualifizierte Ausbildung, keinen Arbeitsplatz und dadurch keine reelle Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Wir müssen bedenken, dass das die nächste Generation ist, die die EU tragen und entwickeln soll. Diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen dürfen nicht den Anschluss an die Arbeitswelt verlieren.
- Die Einführung von Mindestlöhnen in den Mitgliedsstaaten der EU, berechnet auf der Grundlage der jeweiligen nationalen Verdienstniveaus
- Die EU muss ein starker Wirtschaftsraum bleiben. Nur so können wir unsere Lebensqualität erhalten und verbessern. Ohne wirtschaftliche Stärke kann die EU die Staaten, Institutionen, Unternehmen etc. nicht länger so fördern wie jetzt.
- Der ländliche Raum muss unbedingt gefördert und entwickelt werden. Hier müssen in Zukunft mehr Infrastruktur und Arbeitsplätze entstehen. Die Urbanisierung kann nicht unendlich weitergehen.
5. Warum ist die EU gerade für Deutschland wichtig?
Wir brauchen eine starke EU, weil der größte Teil der deutschen Exporte in EU-Länder gehen. Die einzelnen Mitgliedsstaaten müssen dafür politisch stabil sein und ihre Wirtschaftskraft behalten.
Weiterhin profitieren wir von der Reisefreiheit und der gemeinsamen Währungsunion.
6. Was wünschst Du Dir für die EU in 10 Jahren?
Ich wünsche mir ein besseres Monitoring und mehr Transparenz zur tatsächlichen Nutzung von EU-Fördermitteln. Die tatsächliche Effizienz der Fördermittel ist zurzeit nur schwer feststellbar.
Des Weiteren soll die EU wirtschaftlich ein gleichwertiger Partner und Wettbewerber zur USA und zu China sein.
Abschließend wünsche ich mir, dass die EU-Bürger und –Bürgerinnen sich wieder mehr auf ihre Geschichte und ihr europäisch-humanistische Weltbild besinnt. Wir brauchen ein starkes Engagement in Afrika und für Menschen, die unsere Hilfe brauchen.
Hannover, den 05.05.2019
(Interviewerin: Fuluk Liu-Rüsch)